Viele Frauen, die durch Leistung und Funktionen sichtbar geworden sind, haben Diffamierung selbst erlebt. Die Juristin und Frauengeschichtsforscherin Barbara Degen ist eine von ihnen. Ihre These: Recht und Gesetz allein reichen nicht aus, um Diffamierung zu verhindern.
Verfasst von Barbara Degen für die SAFI-Konferenz Paris 2023. Hier finden Sie den Vortrag zu Diffamierung & Ethik / Moral in englischer Sprache.
Die Kernaussagen:
- Es ist der Hartnäckigkeit der Frauenbewegung zu verdanken, dass es überhaupt zu legistischen Fortschritten kam.
- Die Rechtstatbestände werden durch einen Fokus auf mögliches „Fehlverhalten“ der Frauen und mögliche „Entschuldigungen“ für das Verhalten der Männer unterlaufen.
- Die Gesetzeslücken führen dazu, dass Diffamierung ungestraft bleibt und zu einer Art Selbstjustiz führt. Wir brauchen begleitende moralische und ethische Standards und die Verteilung der Verantwortung für entsprechendes Verhalten auf möglichst viele Köpfe in der Gesellschaft.
- Wir brauchen einen kulturellen Wandel, und wir brauchen Kampagnen gegen Machtmissbrauch.
Ich möchte Ihnen zunächst von meinen eigenen persönlichen Erfahrungen mit der Bestrafung unerwünschter, hartnäckiger und die männlichen Machteliten massiv störender Frauen berichten:
Persönliche Erfahrung
Ich forsche seit langen Jahren zur NS-Politik in Deutschland und – weil mein Großvater 1941 ein Opfer dieser Politik geworden ist – zur „Euthanasie“, der Tötung von ca. 300 000 Frauen und Männern im Deutschen Reich, die von den Heil- und Pflegeanstalten veranlasst wurde, unter dem Vorwand, diese Menschen seien körperlich oder mental beeinträchtigt.
Seit 2010/2011 forsche ich zur Heil- und Pflegeanstalt Bethel/Bielefeld in der NS-Zeit, der größten protestantischen Heil- und Pflegeanstalt des Deutschen Reiches und der Nachkriegszeit. Als ich mit meiner Forschung begann, war die unbestrittene Meinung in der Literatur, die Stiftungen der jeweiligen Einzelanstalten hätten nicht nur in der NS-Zeit Widerstand geleistet, sondern auch tapfer die Patienten und Patientinnen vor den Gefahren des NS-Systems gerettet.
In meinem 2014 erschienenen Buch „Bethel in der NS-Zeit – Die verschwiegene Geschichte“, habe ich diese Legende widerlegt, nachdem ich Tausende von Sterbeurkunden toter Säuglinge entdeckt und zu den Hintergründen geforscht hatte. Inzwischen weiß ich, dass die Säuglinge und Kinder der Anstalt u.a. Opfer mörderischer Medizinexperimente und bewusster Tötungen geworden sind.
Diese Befunde konnte und kann die Machtelite der Anstalt nicht akzeptieren. Ich werde seit über 12 Jahren wissenschaftlich diffamiert und nenne diese Angriffe inzwischen „wissenschaftliches Stalking oder Mobbing“.»
Nun zu meinen Überlegungen zum Thema Nicht-Bestrafung von Diffamierung und dem ethisch-moralischen Kontext:
Verdienst der Frauenbewegung
Als Anwältin für Frauen war ich die „Dolmetscherin“ zwischen ihren Wünschen und Interessen einerseits und den rechtlichen, oft frauenfeindlichen Normen andererseits. Das bedeutete immer auch eine zusätzliche Beratungsarbeit, z. B. darüber, ob überhaupt und wie genau der Rechtsweg beschritten werden soll.
Wollten meine Mandantinnen klagen, so gehörte neben den Hinweisen auf die Risiken auch eine Diskussion über die bisher gemachten Rechtserfahrungen. Dazu ein Bespiel aus der Rechtsentwicklung bei sexueller Gewalt am Arbeitsplatz:
Dass es diesbezüglich überhaupt zu Rechtsfortschritten kam, ist der Hartnäckigkeit der Frauenbewegung zu verdanken. Die Diskussion innerhalb der Frauenbewegung begann bei uns in den Medien Mitte der 80er Jahre, fördernd war eine große Untersuchung über die Anzahl, die Art der Übergriffe und die Reaktion der Frauen, die von der EU finanziert und nach dem Anschluss der DDR veröffentlicht wurde.
Es folgte 1994 das erste Schutzgesetz, das sogenannte „Beschäftigungsschutz für alle Betriebe„, das sich ausdrücklich dem Schutz vor Übergriffen verpflichtet fühlte und unter anderem eine neuartige Klausel enthielt: die Beschäftigten hatten ein Leistungsverweigerungsrecht, konnten also der Arbeit fernbleiben, solange der Arbeitsgeber keine wirksamen individuellen und strukturellen Schutzmaßnahmen ergriff.
Abgelöst wurde dieses Gesetz durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, das diese Fragen konkretisierte, eine Beweiserleichterung einführte, aber das Leistungsverweigerungsrecht strich.
Gesetze allein genügen nicht
In der Praxis stellte sich außerdem heraus, dass rechtliche Regelungen allein nicht zu einer Änderung der Täter und des Machtapparates führen. Das werden Sie alle kennen: der Fokus liegt heute weitgehend auf vermutetem „Fehlverhalten“ von Frauen in ihrer Vergangenheit und den „Entschuldigungsgründen“ der Täter. Stichworte sind: angebliche Freiwilligkeit, Unterstützung durch andere Männer, Verharmlosung, das Lächerlichmachen von Frauen und vieles mehr.
Auch über diese Risiken musste ich meine Mandantinnen aufklären. Nicht nur im Wissenschafts- sondern auch im Rechtsbereich beobachte ich eine Argumentationsverschiebung zugunsten einer verobjektivierten scheinbar größeren „Sachbezogenheit“ zu Lasten der Schutz- und Fürsorgeaspekte bezogen auf die Betroffenen.
Ethik und Politik
Wenn zentrale, Menschen schädigende Prozesse wie Diffamierungen dem „freien Spiel der Kräfte“ überlassen bleibt, bedeutet das, allein den Betroffenen die Durchsetzung ihrer oft mangelhaften Rechte zu überlassen und strukturelle Zusammenhänge zu ignorieren.
Diese Probleme lassen sich aus meiner Sicht nur auflösen, wenn die Erfahrungen der Betroffenen, und die von Feministinnen entwickelten und propagierten moralischen und ethischen Normen in die politischen Überlegungen einfließen.
Eine Erfahrung ist, dass es einerseits gesetzliche Regelungen braucht, diese aber nicht ausreichen, um die Realitäten tatsächlich entsprechend zu gestalten. Es geht nicht nur um die Bestrafung von Fehlverhalten von Tätern und Täterinnen, sondern darum, dass eine große Anzahl von Personen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, transparente Handlungsstrategien zu entwickeln und Kontrollmechanismen einzuführen und anzuwenden.
Dies ist in allen Bereichen und auf allen Ebenen anzustreben, auch innerhalb der Zivilgesellschaft. Fehlt dies, entsteht ein gravierendes demokratisches Defizit, das ich als Verstoß gegen die Menschenrechte und die Orientierung unserer Verfassungen an den Grundrechten von Selbstbestimmung, Schutz vor Verletzungen und Emanzipation sehe.
Der ethische Grundsatz der tatsächlichen Gleichberechtigung und der Respektierung der Würde der Frauen muss Vorrang von ökonomischen Interessen und Entscheidungen haben. Da stützen wir uns auf die Erklärung der Menschenrechte und die nationalen Grundrechte. Personen zeigen mit der Übernahme der Verantwortung ein entsprechendes moralisches Verhalten.
Schutz vor Machtmissbrauch
Diffamierungen, die zum Ziel haben, Personen in ihrer Position und in ihrer Existenz zu zerstören, sind auch als Machtmissbrauch zu verstehen. Dieses Verständnis zeigt auf, dass eine Rechtsnorm zur Eindämmung oder Bekämpfung nicht ausreicht – es braucht zwei zusätzliche Komponenten: die Kultur muss sich in der Praxis verändern und bewähren und es braucht ein Schutzkonzept für die Betroffenen von Diffamierungen mit und ohne sexualisierten Bezug.
Die Kulturveränderung muss auf der politischen, der betrieblichen, der wissenschaftlichen, der religiösen, der sportlichen, der zivilgesellschaftlichen Ebene sichtbar werden. Die einzelnen Personen sind als Mitglieder der Gesellschaft verantwortlich. Wenn sie innerhalb von Organisationen (Betrieben, Universitäten, wissenschaftlicher Förderung, Parteien, Stiftungen u.a.) eine Funktion bekleiden, sollen sie dazu beitragen, dass zur Abwehr von strukturellem und individuellem Machtmissbrauch und / oder Diffamierungen auf allen hierarchischen Ebenen entsprechende Massnahmen ergriffen werden.
Was ist zu tun?
Auf politischer Ebene sind rechtlich wirksame Maßnahmen zu treffen. Dazu gehören die wirksame, nicht nur verbale Verankerung des Vorrangs des Art. 3 Abs. 2 und Art. 1 GG, ebenso wie die verbindliche Anbindung an die Menschenrechtsnormen in alle neuen rechtlichen Gesetze und Verordnungen und z.B. die Beweislastumkehr und Verbandsklageverfahren. Wir arbeiten an entsprechenden Vorschlägen für Formulierungen in Zivil- und Strafrecht.
Außerdem sind politische Aufklärungskampagnen gegen Machtmissbrauch erforderlich. Die sorgfältige Erforschung von Diffamierung kann dafür die Grundlage legen.
Für die Betroffenen sollten die Bundesregierungen einen finanziellen Hilfsfonds einrichten.
Die Bundesregierungen sollten außerdem über die Erfolge und Misserfolge alle zwei Jahre einen öffentlich zugänglichen Bericht zu erstellen und auf die Durchsetzung auf internationaler Ebene hinwirken.
Dr. Barbara Degen ist Juristin und Frauengeschichtsforscherin. Sie ist Mitbegründerin des Feministischen Rechtsinstituts sowie des Vereins Haus der FrauenGeschichte in Bonn und Buchautorin („Das Herz schlägt in Ravensbrück. Die Gedenkkultur der Frauen“, „Justitia ist eine Frau. Geschichte und Symbolik der Gerechtigkeit“).
Lesen Sie hier auch:
- Diffamierung I: Definition und Gesetz, verfasst von Zita Küng.
- Ab 11.10.2023: Diffamierung III: Warum sich auch Organisationen mit Diffamierung beschäftigen müssen, verfasst von Ulrike Reiche
- Diffamierung IV: Die Rolle von Öffentlichkeit und Medien, verfasst von Claudia Gigler.
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