Verlorene Ehre: Abwertung, Lähmung, Existenzverlust

16 Tage gegen Gewalt: Vom Machmissbrauch, der die Erniedrigung und Abwertung von Frauen zum Ziel hat, der zu Rückzug und Schweigen zwingt, bis hin zum Existenzverlust.

Die 16 Tage gegen Gewalt umfassen die Tage zwischen dem 25. November, dem internationalen Gedenktag für alle Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, und dem 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte. Diffamierung.net beschäftigt sich mit einer besonders subtilen Form von Gewalt – dem Machtmissbrauch, der Frauen ihres Handlungsspielraumes beraubt und zur Enteignung von geistigem Eigentum bis hin zur existenziellen Vernichtung führt.

Diffamierung.net ist ein internationaler Arbeitskreis im Raum Deutschland, Schweiz und Österreich, der zum Thema Diffamierung sensibilisiert und forscht. Die 16 Tage gegen Gewalt 2023 nahmen wir zum Anlass für eine Veranstaltung in Konstanz am Bodensee, die ausgehend von Heinrich Bölls „Verlorenen Ehre der Katharina Blum“ Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellte und die Ohnmacht von Frauen illustrierte, die in der Welt von heute Opfer von Diffamierung, Beute von Medien werden.

Die Katharina Blums von heute

Jolanda Spiess-Hegglin ist eine von vielen Katharina Blums der heutigen Zeit: Sie kämpft seit zehn Jahren einen Kampf gegen einen Vernichtungsfeldzug, der durch eine Verletzung des Amtsgeheimnisses initiiert wurde, von Postern und Kommentatoren verstärkt und von Boulevard-Medien, die in der Schweiz eine erdrückende Marktpräsenz haben, zu einer Kampagne ausgebaut wurde, mit dem Bestreben, diese zur eigenen Gewinnmaximierung zu nützen.

Katharina Blum wurde nach nur vier Tagen zur Mörderin. Jolanda Spiess-Hegglin wurde zur Ikone der Frauen – und auch der von Diffamierung betroffenen Männer -, die sich weigern, aufzugeben und zu verstummen, die die Kraft finden, sich zu wehren, und denen letztlich auch Erfolg beschieden ist, wenngleich es ein mühsamer Weg ist. Der von ihr gegründete Verein #netzcourage ist ein Leuchtturm in der Schweiz, in der es an staatlichen Beratungsstellen fehlt.

Vorführung am neuzeitlichen Pranger

In Konstanz trafen sich Zita Küng aus Zürich (Feministische Fakultät), Ulrike Reiche aus Konstanz  (Feministische Fakultät) und Claudia Gigler aus Graz (Female Leaders Initiative) mit Jolanda Spiess-Hegglin zu einem Podiumsgespräch, bei dem erörtert wurde, was Diffamierung von zulässiger Kritik oder anderen Gewaltphänomen, etwa Mobbing, unterscheidet. Frauen, die sichtbar werden, Frauen, die in die Domäne von Männern eindringen, Frauen die laut sind, wo andere erwarten, dass leise  bleiben, sind besonders gefährdet. Im Zentrum des Abends stand die Analyse, wie die digitale Revolution Online-Plattformen von etablierten Medien aber auch von neuerdings übermächtigen Einzelpersonen und Gruppierungen entstehen ließ, die sich jeder Kontrolle entziehen und durch digitale Tools, unterstützt von wirkmächtigen Algorithmen, die Privatsphäre von Menschen zum Gegenstand von öffentlichen Verhandlungen machen. Eine öffentliche Vorführung am neuzeitlichen Pranger.

Wer schweigt, wird zum Beitragstäter

Ergänzt wurde die Runde um die Konstanzer Stadträtin Christine Finke, die Seite an Seite mit Jolanda Spiess-Hegglin die Analysen der Aktivistinnen von Diffamierung.net und ihren Entwurf von Gegenstrategien erdete. Finke berichtete davon, wie sie selbst von anonymen Postern in ihrem, für sie existenzbestimmenden Umfeld, dem 40-köpfigen Stadtrat, diffamiert wurde. Und sie öffnete ein kleines Fenster mit Perspektive: Wer schweigt, wird im shitstorm zur Mittäterin, zum Mittäter. Ihr „Chef“, der Oberbürgermeister von Konstanz, schwieg nicht. Ein klärendes Statement von ihm genügte, um die Lawine im Keim zu ersticken, um Solidaritätsadressen der Kolleginnen und Kollegen auszulösen, um die völlig haltlosen Behauptungen zu etwas werden zu lassen, über das sie heute selber lachen kann.

Zum Schweigen verdammt

Andere Frauen haben nicht das Glück, vom ersten, wichtigen Moment an Beistand zu erfahren. Sie haben nicht die Chance, das öffentliche Bild im Entstehen zu korrigieren, weil sie keiner fragt, und weil sie mit dem Rücken zur Wand und ohne strategische Expertise und Begleitung kämpfen. Über ihre Schicksale kann diffamierung.net in vielen Fällen nicht berichten, weil sich die Täter ihr Schweigen erkauften, oder weil dieses Schweigen den Betroffenen, die ihrer beruflichen Existenz oder ihrer psychischen Gesundheit beraubt wurden und mühsam den Neuanfang machen mussten, als der einzige Weg erscheint, nicht auch in der neuen Existenz nicht wieder von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

Eine Sprache für das Unaussprechliche

Ein streckenweise bedrückender Abend, mit der Hoffnung, für das oft Unaussprechliche eine Sprache zu finden, indem Expertinnen wie die Mitstreiterinnen von diffamierung.net Ursachen und Wirkung benennen, Verbündete ausmachen und Konzepte entwickeln, die die Betroffenen aus der Ohnmacht führt. Dazu gehört die Anpassung und Ergänzung der Straftatbestände an den Rufmord mit heutigen Mitteln, das Knüpfen von Netzwerken, die Prävention in Organisationen und Betrieben.

„Raus aus der Diffamierungsfalle“ – das ist das Motto von diffamierung.net, und das war das Thema des Abends. Volkshochschule Konstanz, Theater Konstanz, Terre-des-femmes und Chancengleichheitsstelle trugen dazu bei, dass diese Begegnung stattfinden konnte. Es ist nicht der Anfang aber auch noch lange nicht das Ende einer Konfrontation, die für einen gesellschaftspolitischen Konsens und Auftrag wirbt: Es geht nicht nur darum, Frauen die gleichberechtigte Teilhabe und den Aufstieg in Führungspositionen zu ermöglichen, sondern ihnen auch den Verbleib in ihren Positionen und die nötigen Handlungsspielräume zu sichern.


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