431.427 Franken eingeklagt: Erstmals soll ein Gericht den Gewinn eines Mediums aus persönlichkeitsverletzenden Artikeln feststellen und dem Opfer zuerkennen.
Das Urteil wird schriftlich zugestellt, und die Nervosität ist groß: Ende Oktober ging am Kantonsgericht Zug in der Schweiz ein Prozess über die Bühne, der als Höhepunkt eines zehn Jahre währenden Verteidigungskampfes der heutigen Journalistin und ehemaligen Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin gegen das Boulevard-Medium „Blick“ (Ringier-Verlag) zu betrachten ist. Das Urteil könnte wegweisend für künftige Medienklagen in der Schweiz, aber auch in Deutschland oder Österreich sein.
Jolanda Spiess-Hegglin wurde im Dezember 2014 im Rahmen einer politischen Feier Opfer eines mutmaßlichen Sexualdelikts, das mit Bild und Namen in der Boulevardzeitung „Blick“ identifiziert und über mehrere Jahre hinweg immer wieder medial und finanziell bedrängt und ausgebeutet wurde. Mehr als 150 Artikel sind dokumentiert. Der Ringier-Verlag entschuldigte sich, weigerte sich aber, Wiedergutmachung zu leisten. Die persönlichkeitsverletzende Berichterstattung wurde in der Folge von anderen Medien aufgegriffen und fortgesetzt, die Täter-Opfer-Umkehr auf die Spitze getrieben. Zahllose Shitstorms waren die Folge. Im Zuge der sich Jahre hinziehenden gerichtlichen Auseinandersetzung mit der Medienbranche, innerhalb derer Spiess-Hegglin ein Urteil nach dem anderen für sich erstritt, wurde das Opfer in den Online-Foren dieser Medien zum Abschuss freigegeben.
Gewinn pro Artikel berechnet
Im konkreten Verfahren geht es um vier Artikel in den Ringier-Medien, von denen bereits gerichtlich festgestellt wurde, dass sie persönlichkeitsverletzend waren, sowie den Gewinn, der daraus erzielt wurde und der nun von Ringier an Spiess-Hegglin erstattet werden soll. Das Urteil könnte Folgen für andere Verlagshäuser in anderen Fällen haben. Hansi Voigt, Ex-Chefredakteur der Onlineredaktion von „20 Minuten“, stellte sich an die Seite Spiess-Hegglins und stellt seine Expertise zur Verfügung: Zuvor war es noch nie gelungen, die Gewinne auf die einzelnen strafbaren Artikel herunterzubrechen. Durch die Messung der Klicks hat sich dies geändert. Voigt kam im Falle der vier Artikel auf eine Summe von 431.427 Franken. Inklusive gerichtsüblicher Zinsen ergibt das einen Betrag von 640.000 Franken.
Formel für künftige Klagen
Diese Summe wird von Ringier bestritten – der Verlag spricht von nur 5.000 Franken. Außerdem wird versucht, die Klage abzuwehren, indem behauptet wird, die Klägerin habe innerhalb des komplizierten Verlags-Geflechts die falsche Firma beklagt. Jolanda Spiess-Hegglin und ihre Anwältin Rena Zulauf wollen die gerichtliche Bestätigung einer „Formel“ erwirken, mit der auch künftige Medienopfer den Gewinn errechnen können, den Medien zu Ihren Lasten erwirtschaften, ohne dafür Wirtschaftsprüfer und Experten hinzuziehen zu müssen.
Das Urteil wird mit Spannung erwartet.
Dieser Text von Claudia Gigler ist in der Kleinen Zeitung erschienen: https://www.kleinezeitung.at/kultur/medien/19065469/prozess-sorgt-fuer-aufsehen-opfer-wehrt-sich-gegen-boulevardmedien