Meistgeklickt: Rückschau auf eine 10 Jahre währende Hetzjagd

Das Buch erschien im November 2024. Im Klappentext der Rückschau von Jolanda Spiess-Hegglin auf eine mediale Hetzjagd heißt es: „Das Leben von Jolanda Spiess-Hegglin, damals frisch gewählte grüne Kantonsrätin, verändert sich im Dezember 2014 auf einen Schlag: Am Morgen nach der Zuger Landammannfeier erwacht sie mit einem unerklärbaren Filmriss und Unterleibsschmerzen. Nach einer Abklärung im Spital werden Strafuntersuchungen eingeleitet, in ihrem Intimbereich wird die DNA zweier Männer gefunden. Obwohl die Politikerin nachweislich niemanden beschuldigte, veröffentlichte der Blick zwei Tage später unter der Schlagzeile „Hat er sie geschändet?“ Namen und Bilder Spiess-Hegglins und eines SVS-Politikers.

Lesen Sie hier Auszüge aus der Rückschau von Jolanda Spiess-Hegglin auf die vergangenen zehn Jahre, erschienen im Limmat Verlag und hier zu bestellen. Das Buch erschien unmittelbar nach der Verurteilung zweier Stalker und kurz vor dem entscheidenden Urteil über die Gewinnherausgabe.

S. 22: Es war Heiligabend 2014. … Den Link zum Bild-Artikel bekam ich von Freund:innen und Bekannten, aber auch von wildfremden Menschen aus der ganzen Schweiz über Messenger oder per E-Mail zugeschickt. Immer und immer wieder.

Ich glaube, ich starrte den Artikel minutenlang an. Nach wiederholtem Lesen der ersten Abschnitte des Artikels – ich schaffte es nicht bis zum Schluss – scrollte ich nach unten und sah die bereits nicht mehr zählbaren negativen, ja wütenden Reaktionen. Über tausend mal war bereits auf den Daumen-runter-Button geklickt worden. Dann sah ich die vielen Leser:innenkommentare und quälte mich Wort für Wort durch die Kommentarspalte. Dort machte man sich abwechseln über mich lustig, beschimpfte mich oder äußerte sexualisierte Fantasien. Der geballte Hass traf mich wie ein Dolchstoß.

Das Krankenhaus gab die Meldung zur Untersuchung ohne Einverständnis des Opfers an die Polizei weiter und löst damit die polizeiliche Untersuchung aus, die den Weg in die Medien fand. Gleichzeitig hat es verabsäumt, die von Jolanda Spiess-Hegglin abgegebene Urinprobe zu untersuchen und veranlasste die Untersuchung von Blut zu spät – zu einem Zeitpunkt, zu dem kein Nachweis mehr möglich ist. Wenig überraschend war das Ergebnis negativ.

Es kam, was kommen musste

S. 35: In den Zeitungen kam, was kommen musste. „Keine K.O.-Tropfen im Spiel“, titelte die NZZ am 5. Jänner 2015, ebenso Blick und der Bote der Urschweiz: „Keine K.O.-Tropfen!“ Noch deutlicher wurde man in den Kommentarspalten der Onlinemedien: Man war sich einig, dass es eine einvernehmliche Geschichte war, und tat die Vermutung, dass ihr möglicherweise Drogen verabreicht worden waren, als faule Ausrede der beteiligten Frau ab.

S. 45: Wie bereits erwähnt, beherrschte (der Anwalt des möglichen Täters) Victim Blaming wie kein anderer. Bereits im Frühling desselben Jahres hatte er ich anlässlich meiner zweiten Befragung als Opfer eines möglichen Sexualdelikts gefragt, ob ich in Kontaktbars verkehre. Er nannte sogar den Namen eines Etablissements in Luzern, von dem ich noch nie gehört hatte. Sein Vorgehen war strategisch, mit der Frage sollte meine Integrität angezweifelt werden. Die Frage wurde protokolliert, und obwohl ich sie irritiert verneinte, war das Thema auf einmal Teil der Akten.

Die Erfahrungen mit diesem Anwalt haben mir einen besseren Einblick in ein patriachalisches System und in misyogyne Vorgänge gewährt als andere in meinem Leben. Ein paar Wochen später stellte derselbe Anwalt die Krankenhausakten meiner gynäkologischen Untersuchung auf Twitter. Sie haben richtig gelesen. Davor schon zeigte mich der damalige Beschuldigte über diesen Anwalt noch wegen übler Nachrede an, ich erfuhr von der Anzeige aber nicht etwa von der Staatsanwaltschaft, sondern aus der Presse.

Ebenfalls aus der Presse erfuhr ich von der Einstellung des Strafverfahrens wegen Schändung gegen den SVP-Politiker. Ich hörte die Nachricht im Radio während des Mittagessens, am Küchentisch mit den Kindern. Die Staatsanwaltschaft informierte die Presse, bevor sie mich informierte.

Stell dir vor, du hast einen Filmriss…

S. 48: „Hat er sie geschändet?“, stand da in fetten Lettern. Daneben ein Porträtfoto von mir, kopiert von meinem Wahlkampf-Flyer, auf dem ich strahle wie ein Maikäfer. Offensichtlich ein toxischer Mix, der in den von Polarisierung angetriebenen Denkzentralen der Wutbürger:innen und Boulevard-Konsument:innen sogleich die Meinungsbildung auslöste: Diese Frau lügt.

Diese Headline war verheerend, da sie maßgebend für alles war, was darauf folgte. Es war eine polemische, sensationslüsterne Frage, die festigte und bewertete. Es gab nur noch ein Entweder-Oder. Ich war als Opfer und ein anderer als tatverdächtiger Schänder der Nation ausgestellt. Ich habe aber bis heute niemanden falsch beschuldigt. Nicht einmal bei meiner ersten polizeilichen Einvernahme. Beschuldigt haben über die Jahre allein die Medien. Dass sich der ganze Hass gefühlt allein an mir entlud, ist der misogyne Reflex eines Männertypus, den ich in all den Jahren leider gut kennengelernt habe. Männer, die Frauen gegenüber Verachtung und Geringschätzung empfinden.

S. 53: Der Kommunikationsberater (von Jolanda Spiess-Hegglin) wiederholte, was die Öffentlichkeit ohnehin schon wusste, weil es die Medienstelle der Polizei bestätigt hatte: dass ich aufgrund eines mehrstündigen Erinnerungsverlustes das Krankenhaus aufgesucht hatte.

Während rund eines halben Jahres erhielt mein Kommunikationsberater immer wieder Telefonanrufe von Medienschaffenden verschiedener Reaktionen, auch von Chefredaktoren. Sie alle erkundigten sich in regelmäßigen Abständen, ob ich noch mit Reto zusammen sei. Denn „sehr vertrauenswürdige“ oder „der Familie nahestehende“ Quellen hätten sie, die Medienschaffenden, über die Trennung des Ehepaars Spiess-Hegglin informiert.

5500 Artikel über sie im ersten Jahr

S. 74: Er erste Jahr nach der Landammannfeier wurden gemäß der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) rund 5500 Artikel über mich geschrieben, zum Zeitraum 2015 – 2016 findet man in der SMD knapp 12000. Die Texte, die keine Fehler, Ungenauigkeiten, Schlagseite, Mutmaßungen, Gerüchte, absurde Theorien oder Sexismus enthalten, kann man an einer Hand abzählen. Es wäre schlicht ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, alle justiziablen einzuklagen.

S. 75: Ich begann schon bald, laufend die Verfehlungen von Medienschaffenden zu rapportieren, zu korrigieren und über Sozial Media und meinen dafür erstellten Blog namens #nichtschweigen zu veröffentlichen. Ich wurde zu Vorlesungen für angehende Medienschaffende eingeladen, an der ZHAW in Winterthur, an der Uni Freiburg, der HSG und am Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern.

Reden und Thematisieren war die richtige Strategie, das merkte ich recht bald. Ich mache die damaligen Verfehlungen nur dann an den einzelnen Medienschaffenden fest, wenn diese bis heute ihre Artikel partout nicht hinterfragen wollen. Wenn Fehler aufgearbeitet wurden oder man gar um Verzeihung gebeten hat, gehe ich mit den damals verletzenden Texten und deren Autor:innen anders um.

S. 78: Ich bezeichnete mich bis vor zehn Jahren nicht als Feministin, und Genderthemen waren für meine eigenen politischen Ziele kaum eine Inspiration. Um ehrlich zu sein: Ich wusste eigentlich gar nicht genau, was das war…

Damaged, but not broken

S. 79: Im Februar oder März 2015 bekam ich ausgerechnet aus einer Ecke erstmals konkrete Unterstützng, aus der ich sie nicht erwartet hatte:  von linken Feministinnen. … In der Folge fand ich von diesen etwa 10 bis 15 Frauen dieser Gruppe jeden Tag eine Postkarte mit ermutigenden, handgeschriebenen Zeilen in unserem Briefkasten. Eine der Karten hängt noch immer an unserem Kühlschrank: „Damaged, but noch broken“, steht auf der Vorderseite über einer Zeichnung eines Mädchens, das den Arm in einer Schlinge trägt. Mich berührte das sehr, denn ich kannte die meisten dieser Frauen nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen – wenn überhaupt. Sie stellten kurze Zeit darauf die Petition „Frauenfeindliche Berichterstattung stoppen“ auf die Beine. Auf der eigens dafür erstellten Website las ich erstmals Begriffe wie Rape Culture und Victim Blaming, die ich zuerst googeln musste, weil ich mir darunter nichts vorstellen konnte.

S. 80: Victim Blaming beschreibt die Schuldumkehr, bei der die Schuld der Tatperson auf das Opfer übertragen wird.

S. 81: Die Petition „Frauenfeindliche Berichterstattung stoppen!“ öffnete mir die Augen dafür, dass das, was mir geschah, nicht einfach nur mir als Einzelperson gegenüber ungerecht war. Ich verstand erstmals, dass diese ganze Boulevard-Kampagne gegen meine Person, aber auch die vorausgehenden Indiskretionen und falschen Anschuldigungen nicht einfach mein eignes persönliches Schicksal waren, sondern dass dahinter eine Vielzahl von Fehlleistungen steckte, die System hatte. Diese Dinge zu erkennen, erlebte ich als Aufatmen. Es war, als würde die ganze Last nicht mehr nur von meinen eigenen Schultern getragen. Die Solidarität von nationalem politischem Ausmaß war umso tröstlicher für mich weil ich von den Mitgliedern meiner eigenen Kantonalpartei – abgesehen von ganz wenigen, inzwischen engen Freund:innen und Weggefährt:innen – ab dem ersten Tag nach der Landammannfeier komplett gemieden wurde. Sei es aus Feigheit, weil sie um ihren Ruf fürchteten, oder weil sie in mir einfach ein lästiges Problem sahen, das sie an der Arbeit hinderte.

2017 – die Zeitenwende

S. 85: Angetrieben von meinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und getragen von der Sicherheit, nach dem bis heute ungeklärten Vorfall 2014 nichts falsch gemacht zu haben, waren der Gerichtsprozess und das klare Urteil wegen übler Nachrede gegen den Weltwoche-Vizechefredaktor im Jahr 2017 die erste wichtige Aufarbeitung.

S. 87: Und dann, im Herbst 2017, trendete plötzlich #MeToo.

S. 89: Die Wahl der Sprache bei Berichterstattungen nach Sexualdelikten wurde ab Herbst 2017 mit #MeToo endlich zum Thema. Die Verfehlungen bei der Titelsetzung auf den Boulevard-Redaktionen wurden deutlich seltener. Doch auch wenn nicht mehr von „Sex-Tätern“ oder „Sex-Attacken“ geschrieben wurde, die „Zuger Sex-Affäre“ hielt sich erstaunlich lange.

S. 93: Als am 10. Jänner 2015, keine drei Wochen nach den ungeklärten Ereignissen der Nacht nach der Landammannfeier 2014, die erste von mehreren übergriffigen Nachrichten in meinem Postfach eintraf, dachte ich mir noch nichts dabei.

Zwei Stalker und ihr Hass

S. 100: Die beiden Stalker richteten auf allen Ebenen Schaden an. Ihr zeitintensivstes gemeinsames Projekt ist ein monothematischer Denunzierungsblog. Auf diesem Blog wurden über 200 teils hasserfüllte Artikel über mich und rund ein Dutzend Pornocollagen mit meinem Kopf aufgeschaltet. Die Männer gehen außerdem systematisch Personen und Organisationen an, die mich und #HetzCourage unterstützen. Sie drohen, setzen Falschbehauptungen in die Welt, belästigen, machen Druck und treten fordernd auf. Als Belege für ihre Behauptungen dienen selbst geschriebene Blogartikel. Und als Absenderadressen dienen Fantasienamen und Fake-Accounts.

Nach umfassender und monatelanger Dokumentationsarbeit stehen endlich mehrere Gerichtsprozesse gegen die beiden Stalker an…

S. 108: Digitale Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das sich nicht allein mit Strafanzeigen lösen lässt. Strafanzeigen sind eigentlich der letzte mögliche Ausweg. Aber wenn man digitale Gewalt anzeigt, muss man sie konkret benennen können. #NetzCourage hat sich da ein großes Wissen erarbeitet, sehr zum Ärger einer ganzen Menge überführter Täter…

S. 110: Als ich 2020 öffentlich ankündigte, zum ersten Mal in der Schweiz ein rechtskräftiges Gewinnherausgabe-Urteil erwirken zu wollen, ahnte ich nicht, dass nach dieser Ankündigung ein weiterer medialer Diffamierungs-Marathon beginnen würde.

Die verlorene Ehre

S. 133: Man kommt nicht umhin, an „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ zu denken, viele meiner Stationen der letzten Jahre kann man auf die Schlüsselpassagen von Heinrich Bölls Roman aus den Siebzigerjahren adaptieren.

S. 134: Warten, bis Graz über die Sache wächst. Das haben mir alle geraten. Ich muss im Nachhinein sagen: Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, dass über diese Ungerechtigkeit auch noch Gras wächst. Ich wollte mich wehren.

S. 136: 2014 und 2015 kamen Social Media in der Schweiz endgültig bei allen an… Klassische Medien merkten, dass die Post online abging und Onlinemedien bekamen enorm viel Relevanz. Gerade in dieser Zeit, als die Blattmacher der klassischen Medien plötzlich die Klickmessungen der digitalenArtikel in Echtzeit entdeckten, wurden die übelsten medialen Sünden begangen. Es gab kaum noch Regeln, der Onlineraum wurde von Proleten als digitaler Stammtisch genutzt, die Strafbarkeit ehrverletzender Kommentare war den meisten nicht bewusst. Medien verlinkten ihre Artikel auf Facebook und Twitter und ließen sie von der aufgebrachten Menge für gute Klicks kommentieren, meist unmoderiert und zeitlich unbeschränkt. Die auf den großen Screens in den Redaktionen für jeden Artikel sichtbar gemachten Klicks generierten viel Geld.

S. 137: Inmitten eines digitalen Orkans zu sitzen, bedeutet eine absolute psychische Ausnahmesituation. Ohne einzelne ganz nahe und für mich enorm wichtige, unterstützende Stimmen hätte ich diese Stürme, die wieder und wieder über mich hineinbrachen, keine zwei Tage überstanden.

S. 141: Ich habe mir an einem Jahrestag der damaligen Ereignisse ein Tattoo stechen lassen. Eine Lotusblüte. Lotusblumen können Dreck abperlen lassen, sie wachsen sogar im Schlamm.

Ein Urteil, das die Branche verändert

S. 19:  Diese Klicks dienen den Redaktionen als Anhaltspunkt für das Leser:inneninteresse. Im Umfeld dieser Artikel wird Werbung ausgespielt. Und diese Werbung wird dann wieder über die gemessene Anzahl Einblendungen, den Werbekunden verrechnet.

Die Klickzahlen, die Anzahl Werbeflächen im Umfeld der Artikel und deren Verkaufspreise haben wir gerichtlich von Blick herausgeklagt. Die entsprechenden Daten wurden uns letztes Jahr ausgehändigt. So konnten wir den Online-Ertrag berechnen. Und dank eines exzellenten teams aus Branchenkenner:innen konnte hergeleitet werden, wie sich der Online-Gewinn für den einzelnen Artikel wiederum anteilsmäßig auf den Erlös von gedruckten Zeitungen adaptieren lässt.

Und jetzt, zehn Jahre nach den ersten Artikeln, die über mich erschienen sind, wird es gefällt. Das Urteil, das die Branche verändern wird …

Wer schweigt, stimmt zu

S. 170: Vor 2014 war ich der ungeduldigste Mensch auf der Welt. Das musste ich ändern, dazu wurde ich gezwungen, und heute halte ich Situationen der Ungewissheit prima aus.

Wann immer jemand aus meinem Bekanntenkreis sagt: „Das bringt ja alles nichts, lass es doch bleiben“, dann macht mich das wütend. Ich empfinde das als übergriffig. Denn ich werde nicht aufhören, mich zu wehren gegen Verleumdungen und Hass. Von meinem engeren Umfeld erwartete ich, dass man Haltung und Rückgrat zeigt. Wer schweigt, stimmt zu.

S.171: Nach und nach konnte ich mit den destruktiven Kräften der Medienhäuser umgehen, und gemeinsam mit meiner Medienanwältin und ihrem Team wurde uns mit der Rechtssprechung Gerechtigkeit ermöglicht.

Natürlich kann ich damit nicht alle Wunden heilen, die diese Verletzungen in mir hinterlassen. Doch konnte ich ein Gefühlt der Ohnmacht und Schutzlosigkeit ablegen, als ich lernte, mich mit Hilfe des Rechtssystems zu verteidigen. Der Preis ist aber sehr hoch, denn Anwälte sind teuer, und die Genugtuungen sind lächerlich und stehen in keinem Verhältnis dazu. Das empfinde ich denn auch als ungerecht, dass sich eigentlich nur wehren kann, wer ein finanzielles Polster hat. Das müsste sich ändern, damit die Voraussetzungen für alle gleich sind.


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