Die Berichterstattung der Österreichischen Qualitätszeitung „Der Standard“ über Lena Schilling war ein Tabubruch: Er wurde vom Chefredakteur des Standard mit der Notwendigkeit begründet, zu „sagen, was ist“: Dass eine 23 Jahre alte Spitzenpolitikerin im Privatleben Gerüchte verbreitet habe, die geeignet seien, anderen Menschen zu schaden. Ein Resumee, zehn Tage nach dem Tabubruch.
Zehn Tage nach der umstrittenen Veröffentlichung der Causa Schilling im „Standard“ gibt es zwei neue Fakten und zwei Bekenntnisse: Eine Anzeige, eine Klage auf Widerruf, die Entschuldigung von Lena Schilling dafür, Gerüchte aufgeschnappt und weitererzählt zu haben, sowie die Entschuldigung des Grünen Parteichefs Werner Kogler für seine deftige Wortwahl in Zusammenhang mit der Verteidigung der durch die Berichterstattung diskreditierten jungen Frau.
Die Anzeige wegen Verleumdung verfasste ein 63 Jahre alter Jusstudent, ohne eigene Zitate oder Belege. Die Staatsanwaltschaft möge ermitteln. Die Klage des Ehepaares, mit dem sich Schilling prätorisch verglichen hatte, zielt auf den Widerruf des Vorwurfs häuslicher Gewalt.
Der Vergleich war ein Zugeständnis Schillings an das Bedürfnis des Ehepaares Bohrn Mena, eine Garantie dafür zu erhalten, dass die im privaten Umfeld geäußerten Vorwürfe nicht wiederholt werden. Die Klage auf Widerruf ist ironischerweise die Garantie dafür, dass das Thema, das mit dem Vergleich eigentlich beendet werden sollte, zur unendlichen Geschichte wird. Bisher gibt es kein Indiz dafür, dass diese Vorwürfe öffentlich geäußert wurden, was Voraussetzung für den Erfolg der Klage wäre. Schilling müsste diesen Widerruf zudem wohl nicht, wie gefordert, im Standard platzieren, sondern nur gegenüber ihren einstigen, privaten Gesprächspartnern.
Wissen sie, was sie tun?
Keine neuen Fakten also, aber die Garantie auf Verlängerung der Debatte über den Zeitpunkt der EU-Wahlen hinaus, in Richtung Nationalratswahlen, mit publicityträchtiger Ladung von Zeuginnen und Zeugen, etc. Da drängt sich die Frage auf: Cui bono?
Der Standard legte nichts nach, was die Veröffentlichung der weiteren Gerüchte ohne Fakten und Zitate im Nachhinein rechtfertigen würde. Dafür legten andere nach. Abertausende Poster kehrten ihr Innerstes nach außen und arbeiten sich an der jungen Frau ab. Sie merken nicht einmal, dass sie genau das tun, was sie Schilling vorwerfen: Gerüchte verbreiten, aber nicht nur privat, sondern öffentlich, mit dem Ziel die Frau außerhalb des Gerichtssaales, an einem mittelalterlichen Pranger mit modernen Mitteln, schuldig zu sprechen und auszulöschen. Aber auch Politiker:innen, andere Journalist:innen, einschlägige Plattformen sprangen auf. Eine Auswahl:
Der Chefredakteur der Stadtzeitung „Der Falter“, Florian Klenk, sagt im Journal Panorama, das sei nicht der Verantwortung von Medien und Journalist:innen, sondern „die Verantwortung derer, die sich schlecht benehmen“.
Küchenpsychologie und „Missbrauch“
Gleichzeitig diagnostiziert er bei Lena Schilling freihändig ein Münchhausen-Syndrom, also eine psychische Störung. Später wird er sich dafür mit großem Bedauern entschuldigen und erklären, er habe damit nur gemeint, dass sie „immer wieder G’schichtln erfindet“. Er pocht auf eine „unabhängige Untersuchung“, die die Aussagen der 23-jährigen Lena unter die Lupe nehmen müsse. Es klingt nach Staatsaffäre.
Der Boulevard-Politik-Erklärer und selbst Ex-Politiker Gerald Grosz darf die junge Frau in oe24 als zwanghafte Soziopathin bezeichnen, die in psychiatrische Behandlung gehöre. Daraufhin wird er in den „Talk im Hangar“ von Servus TV geladen, wo er sie erneut zum pathologischen Fall erklärt, und im selben Satz taxfrei erklärt, dass er selbst sehr geübt darin sei, viele Gerüchte über politische Mitbewerber gestreut habe. Keiner greift es auf. Dafür legt Grosz gleich noch einmal nach und stellt die Frage in den Raum, ob die Aktivistin Schilling die Bewegung „nicht auch nur missbraucht“ habe für ihre politischen Zwecke.
„Lügen-Lena“ und „Sugar-Daddy“
Die Gratiszeitung „Heute“ geht „mutig“ voran und berichtet von der Affäre um „Lügen-Lena“, mit der Perspektive, dass „sie sogar im Gefängnis landen“ könnte.
Dem Bundespräsidenten wird es zu bunt und er bittet um Zurückhaltung. FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky kontert damit, dass er ihn in einem TV-Duell als Sugar-Daddy bezeichnet, womit man gemeinhin ältere Männer bezeichnet, die junge Frauen als Gegenleistung für sexuelles Entgegenkommen finanziell aushalten. Ex-FPÖ-Klubchef John Gudenus versieht seine Kritik an Alexander Van der Bellen auf Instagram mit dem Hashtag „Homo“ und meint später, er habe sich nur auf das lateinische Wort für Mensch bezogen.
Jetzt ist kein Halten mehr. Diffamierung und Hass im Netz nehmen ihren Lauf. Alte Postings der jungen Aktivistin werden ausgegraben, Brücken zu Linksauslegern identifiziert. Die Rechte springt auf: Das rechtspopulistische Portal Nius , betrieben vom ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, „weiß“, dass Lena Schilling „eng verbunden mit der linksextremistischen Szene“ ist und präsentiert Screenshots, die angeblich belegen (aber auch Fakes sein könnten), dass sie deren Postings geliked habe. Die FPÖ importiert die News zurück: Es seien „schockierende Likes“ von Lena Schilling aufgetaucht.
Nius ist übrigens jene Plattform, die zuletzt gegen die stellvertretende Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, Alexandra Föderl-Schmid, wegen angeblicher Plagiate ins Feld gezogen war. Vorwürfe, die sich im Nichts aufgelöst, die Betroffene aber an den Rand ihrer Existenz getrieben haben.
Es reicht nicht, zu wissen
Immerhin: Es ist eine Diskussion in Gang gekommen, eine Debatte innerhalb der Medienhäuser und journalistischen Kreise darüber, ob diese Art der Berichterstattung, notwendig, zulässig und verantwortbar war. Es war ein Tabubruch. Die „Zahnpasta sei heraußen und könne nicht mehr in die Tube gepresst werden, wie es Politikanalyst und Medienbeobachter Peter Plaikner formuliert. Die „Büchse der Pandora“ habe der Standard nicht geöffnet, denn „das Schlechte ist längst in der Welt. Doch wir wollen und müssen nicht alles wissen.“
Es reicht auch nicht für eine Veröffentlichung, etwas „zu wissen“. Was ist, muss mit Fakten und Zitaten belegbar sein. Fakten und Zitate, gegen die sich die beschuldigte Person gerichtlich wehren kann. Und die Macht der Medien darf nicht missbraucht werden, um den Personen, über die berichtet wird, unverhältnismäßig zu schaden. Das wäre die ethisch-moralische Verpflichtung für Medien und Journalist:innen. Für jene also, die Charakter und Moral so kompromisslos von der Jungpolitikerin einfordern.
Mit Kanonen auf Spatzen
Am Anfang stand der Standard. Er muss sich die Frage gefallen lassen: War es das wert?
Falter-Chefredakteur Florian Klenk bilanziert in der Runde der Chefredakteure im ORF seine Erkenntnisse dieser Woche: Die „denunziatorische Kraft“, die die Veröffentlichung der Gerüchte entfaltet habe, sei ihm „unangenehm“. Im Ibiza-Video habe Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache dereinst schlimme Gerüchte über die Ex-Kanzler Sebastian Kurz und Christian Kern in die Welt gesetzt, was überhaupt nicht kritisiert worden sei, es sei immer nur um andere Dinge gegangen. Im Falle Lena Schilling habe die „Stille Post“ ihre Wirkung getan, eine „blöde Bemerkung“ habe sich zu einem schweren „Me Too“-Vorwurf aufgebauscht. Andreas Koller von den Salzburger Nachrichten sagt in dieser Runde, hier sei mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden. Lena Schilling sei aus heutiger Sicht vernichtet. „Man hätte ihr eine Chance geben können“.
Die involvierten Medien-Männer haben Angst um ihre Karrieren. Grüne Funktionäre haben Angst um ihre Mandate. Vom Standard haben sie ihre Aussagen protokollieren lassen. In die Öffentlichkeit trauen sie sich damit nicht. Vielen Medien kam das spanisch vor und sie veröffentlichten die Gerüchte über Lena Schilling nicht.
Just dieser Tage strahlte der deutsche ARD eine bemerkenswerte Dokumentation aus: „Der Star-Anwalt: Christian Schertz und die Medien“. Schertz ist Universitätsprofessor für Presse- und Persönlichkeitsrecht. Er schützt die Privatsphäre von so prominenten Klient:innen wie den Künstler:innen Till Lindemann, Helene Fischer oder Anna Netrebko, Journalisten wie Günther Jauch, Stefan Niggemeyer („Bildblog“), Jan Böhmermann und auch Claas Relotius, auch viele Politiker und die deutsche Bundesregierung.
Journalistische Freiheit
Nicht selten wird Schertz schon im Vorfeld aktiv, also wenn zu befürchten ist, dass etwas an die Öffentlichkeit dringt. Im Interview sagt er, oft bleibe nicht mehr als eine Stunde Zeit, um den Ruin eines Menschen zu verhindern. „Dann ist es meine Mission, das wegzubomben.“ TV-Moderator Günther Jauch geht mit seiner Hilfe systematisch gegen die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte durch die Yellow Press vor. Er sagt in der Sendung: „Wenn er nicht wäre, gäbe es eine Art von journalistischer Freiheit, die nicht mehr mit Recht und Gesetz zu vereinbaren ist.“ Wenn Schertz gegen die Presse vorgeht, kann es schon mal unangenehm werden, sehen Journalist:innen und Medienmacher im Einzelfall auch die Pressefreiheit in Gefahr.
Schertz ist als „harter Hund“ gefürchtet. Er beurteilt nicht moralisch, sondern er setzt für seine Mandat:innen ihre Rechte durch. Die öffentliche Stigmatisierung durch die Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Unschuldsvermutung bewirke die endgültige Zerstörung von Lebensentwürfen. Im Interview stellt er die Frage: „Ist Journalisten nicht bewusst, was sie da anrichten?“
Unschuldsvermutung
Vorfälle im höchstpersönlichen Lebensbereich, der Vorwurf der sexuellen Belästigung bis hin zum Missbrauch, sind besonders heikel. Im Fall des deutschen Regisseurs Dieter Wedel hat Schertz nicht den Täter unterstützt, sondern aktiv dazu beigetragen, dass die Frauen gehört wurden. Veröffentlich hat die „Zeit“ die Geschichte erst nach monatelanger Recherche. Auch in der Verdachtsberichterstattung sei das Prinzip der Unschuldsvermutung zentral, argumentieren Schertz und seine Kanzlei. Sonst käme es dazu, dass der Täter seine Unschuld beweisen müsse, was oft einfach nicht möglich sei.
Die Bereitschaft zu moralischen Urteilen sei ganz offensichtlich gestiegen, „aber Journalisten müssten sich von Belegen treiben lassen, nicht vom Zeitgeist“ argumentiert der Anwalt in der Sendung. Und er appelliert, „Sanftmut und Gnade“ walten zu lassen im Umgang mit Menschen, die Fehler machen. Sonst falle man zurück in ein puritanisches Zeitalter, wo keiner mehr ausschere, „keiner sagt, was er denkt“.
Man braucht ein Gesicht
Interessant in Zusammenhang mit dem Fall Lena Schilling ein Zitat der Autorin der Wedel-Geschichte in der Zeit, Jana Simon, die mit mehr als 340 Menschen gesprochen hatte, so lange, bis Menschen bereits waren, sich öffentlich zu äußern. Simon sagt, wenn man mit so einem harten Vorwurf rausgehe, „muss man mit einem Gesicht rausgehen, weil der andere ist auch ein Gesicht in der Öffentlichkeit“. Man riskiere damit viel, gerade auch als Frau in der Opferrolle, „das ist superhart“.
Der Fall Lena Schilling ist auch ein Politikum. Landauf und landab wird die Frage diskutiert, ob er durch eine Kampagne bewusst gestartet und gesteuert wurde. Außerhalb der grünen Partei, innerhalb der journalistischen Debatte und politischen Analyse, wird die Möglichkeit, dass die ganze Affäre als Kampagne inszeniert wurde, als unwahrscheinlich erachtet. Intern erinnert das zielstrebige Vorgehen einzelner Beteiligter zunehmend an Muster, die man aus vergangenen Ereignissen kennt.
Ungleiche Mittel und Agenda
Der renommierte Journalist Andreas Koller von den Salzburger Nachrichten, mehrfach zum „innenpolitischen Journalisten des Jahres“ gekürt, sagt in der Runde der Chefredakteure, er könne sich nicht des Eindrucks erwehren, in der Berichterstattung über Politiker generell und über die Spitzenkandidaten zur EU-Wahl im Besonderen würden ungleiche Mittel angewandt. Und: das Ehepaar, das zuerst Stillschweigen mittels Vergleich angestrebt hat, sich aber jetzt auf offener Bühne an Lena Schilling abarbeite und eine Klage eingebracht hat, habe „offenbar eine Agenda“, und wenn es nur die sei, „den Grünen zu schaden“, wenige Wochen vor der Wahl.
Claudia Gigler
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