Ulrike Reiche

Eine Frage der Resilienz

Meine persönliche Note aus Anlass der Bucherscheinung „Meistgeklickt“ von Jolanda Spiess-Hegglin, 2024 Limmat Verlag Zürich.

Ich bin mit Jolanda Spiess-Hegglin seit nunmehr 2020 im Kreis von diffamierung.net im Gespräch. Gemeinsam tauschen wir uns in diesem Expertinnenkreis aus, weil wir beobachten, dass die Diffamierung von Frauen, die sich irgendwo öffentlich äußern, nachweislich zunimmt. Es gibt keine wirkungsvollen Regelungen und Maßnahmen, um es zu verhindern. Oft erfolgt keine Bestrafung der Diffamierer.

Einerseits ist die Geschichte von Jolanda ein Lehrstück dafür, wie Diffamierung im medialen Raum inszeniert wird und welche Dynamiken den Prozess verstärken. Andererseits ist ihre Reaktion auf das Geschehen ein Paradebeispiel dafür, wie ein Mensch einer traumatisierenden Diffamierung begegnen kann, ohne davon vollkommen zerstört zu werden.

Und leider – das kann gar nicht genug hervorgehoben werden – zeigt der jahrelange juristische Weg durch die vielen Instanzen und die fortgesetzte mediale Auseinandersetzung im öffentlichen Raum auch auf, welch ungeheure Anstrengungen – persönlich, physisch, mental und materiell – nötig sind, um schließlich Recht für sich zu erwirken.  All dies ist nachzulesen in ihrem Buch „Meistgeklickt“.

Ich habe beim Lesen des Buches schnell gemerkt, dass ich einen besonderen Blick auf dieses Thema habe, der in meinem beruflichen Fokus auf Resilienz und Gesundheit begründet ist. Aus dieser speziellen Perspektive schaue ich auf Geschehnisse und Vorgänge, die Jolanda in ihrem Buch beschreibt. Mein Text ist eine Reflexion darüber, was Diffamierung der davon betroffenen Person abverlangt.

Eine Frage der Resilienz

Der Begriff „Resilienz“ ist fast schon zu einem Buzzword geworden in einer Zeit, in der allerorts von „Transformation“ und „Zeitenwende“ die Rede ist. Ein gängiges Verständnis geht davon aus, dass sich Resilienz wie ein Muskel trainieren ließe, fast schon so, als befände man sich im Leistungssport und trainierte auf den nächsten Wettkampf hin.

Dabei wird übersehen, dass resilientem Verhalten Geschehnisse zugrunde liegen, die  niemand freiwillig  für sich wählen würde. Resilienz ist keine olympische Goldmedaille, die man gewinnen kann, wenn man sich nur ordentlich anstrengt. Resilient zu sein bedeutet im eigentlichen Sinne: erstens zu überleben, und zweitens weiter zu leben.

Resilienzforschung beschäftigt sich mit Bewältigungsmechanismen, die Menschen in existenziell bedrohlichen Phasen entwickeln. Diffamierung ist ein solch erschütterndes Ereignis.

Der Neuropsychiater und Resilienzforscher Boris Cyrulnik verweist auf drei Dimensionen, die den Umgang mit derartigen Traumata beeinflussen: persönliches Temperament, kulturelle Deutung und gesellschaftliche Unterstützung.

Im Fall von Jolanda Spiess Hegglin genügt ein Blick auf die Buchrückseite, um ihre persönliche Haltung zu den Geschehnissen zu erkennen:

„Warten, bis Gras über die Sache wächst. Das haben mir alle geraten.

Ich muss im Nachhinein sagen: Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, dass über diese Ungerechtigkeit auch noch Gras wächst.

Ich wollte mich wehren. Ich wollte die Rolle, die mir die Gesellschaft und Medienschaffende zugewiesen haben, nicht spielen.

Ich weigerte mich, ein Opfer der Medien zu sein.“

Verletzung und Deutung

Das, was Jolanda Spiess-Hegglin mutmaßlich seinerzeit auf der Zuger Landmannfeier zugestossen ist, bezeichnet Cyrulnik als „den ersten Schlag“, also eine zugrundeliegende Verletzung. Er führt weiter aus, dass „die Bedeutung aber, die diesem Schlag in der Geschichte des Verletzten und seinem familiären und sozialen Kontext zugeschrieben wird, den zerstörerischen zweiten Schlag bewirkt, der schließlich zum Trauma führt.“

Maßgeblich für eine Traumatisierung ist also die kulturelle Deutung. Im Fall von  Jolanda Spiess-Hegglin wurde ihr diese Deutungshoheit entrissen in dem Moment, in dem ohne ihr Zutun über den Vorfall in einer persönlichkeitsverletzenden Art und Weise öffentlich berichtet wurde. In „Meistgeklickt“ beschreibt sie die ein Jahrzehnt andauernde mediale Hetzjagd zum finanziellen Vorteil des Ringier-Verlages. Die Bewertung dieser Vorgehensweise spiegelt dieses Zitat aus einem Beitrag des Online-Magazins Republik wieder:

„Die Aufarbeitung der journalistischen Fehlleistungen um Jolanda Spiess-Hegglin legt das Psychogramm einer kranken Branche offen.“

Cyrulnik weist in seinen Publikationen insbesondere auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Unterstützung für Traumabewältigung hin. Denn Aktivitäten und Ausdrucksmöglichkeiten, die die Gesellschaft traumatisierten Menschen bietet, können die Widerstandskraft der betreffenden Personen stärken und ihnen ermöglichen, dass sie sich trotz der lebensverändernden Verletzung weiterentwickeln. Und mit ihnen auch die Gesellschaft, in dem diese sich mit den zugrundeliegenden Ereignissen auseinandersetzt.

Individuum und Gesellschaft

Dem öffentlichen, kulturellen und medialen Raum kommt also bei der Verarbeitung von derlei Traumata eine besondere Bedeutung zu. Und zwar nicht nur für eine einzelne Person, die das Trauma erlitten hat. Sondern auch für all jene, die als Medien- und Kulturschaffende aber auch als Lesende oder Bobachtende daran teilhaben – mithin die Gesellschaft als solche.

Am Beispiel der von Jolanda Spiess-Hegglin geführten Gerichtsprozesse und ihrem Engagement für #netzcourage zeigt sich diese Dimension ebenso, wie sie im Jahr 2024 im Zuge des Vergewaltigungsprozesses um Giséle Pelicot einer breiten Öffentlichkeit deutlich wurde.

So unangenehm die zugrundeliegenden Geschehnisse auch sein mögen, so sehr sie uns erschüttern, und so sehr man sich wünschen mag, davon – bitte sehr – nichts wissen zu müssen, so notwendig ist die Beschäftigung damit. Denn nur, wenn wir hinhören und -sehen, kann die Traumatisierung von den Opfern und allen Mitbetroffenen bewältigt werden. Und nur dann können wir als soziale Gemeinschaft den zugrundeliegenden destruktiven Dynamiken entgegenwirken.

Vor diesem Hintergrund ist das Gerichtsurteil zugunsten von Jolanda Spiess-Hegglin gar nicht hoch genug zu bewerten. Wirkt es doch korrigierend in den gesellschaftlichen und politischen Raum hinein.

Traumatisierung und Heilung

Cyrulnik weist darauf hin, dass die Gesellschaft dazu neigt, denjenigen besondere Kräfte zuzuschreiben, die ihre Traumatisierung mutig in den öffentlichen Raum tragen. Er gibt zu bedenken, dass ihr persönliches, soziales oder auch berufliches Engagement, ebenso wie künstlerisches Schaffen, nicht etwa einem Genie entspringt und keinesfalls freiwillig ist – es ist ein Weg, die erlittene Traumatisierung zu bewältigen, in der Hoffnung schließlich Heilung zu erlangen.

Jolanda Spiess-Hegglin hat diesen Weg mit offenen Augen beschritten. Dafür hat sie meinen größten Respekt und mein tiefes Mitgefühl. Ich wünschte, sie hätten diesen Weg nicht gehen müssen. Das Durchfechten der Gerichtsprozesse über alle Instanzen war ebenso unausweichlich, wie das Buch „Meistgeklickt“ zu schreiben.

Ich habe wiederholt beobachtet, welche Anstrengungen es Jolanda gekostet hat, immer wieder aufs Neue ihre Kräfte zu mobilisieren. Unvorstellbar, welchen Belastungen sie und ihre Familie während all der Jahre ausgesetzt waren. Ich wünsche Jolanda und ihrem persönlichen Umfeld nunmehr die nötige Ruhe, auf dass die erlittenen Wunden mehr und mehr abheilen und vernarben können. Gras wird gewiss nie darüber wachsen.

Ulrike Reiche, 3. Februar 2025


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