„Die Spreu vom Weizen zu trennen ist etwas sehr Befreiendes“

Die verlorene Ehre der Jolanda Spiess-Hegglin: Wie die ehemalige Schweizer Kommunalpolikerin und heutige Journalistin lernte, im Kampf gegen den übermächtigen Boulevard und wirkmächtige Stalker zu überleben. Ein Gespräch aus Anlass des Erscheinens ihres Buches „Meistgeklickt“, der Rückschau auf eine zehn Jahre währende Hetzjagd.

Interview: Claudia Gigler

Sie schreiben in Ihrem Buch, die größte Herausforderung während der vergangenen zehn Jahre sei es gewesen, nicht das Vertrauen in andere Menschen zu verlieren. Wie gehen Sie heute damit um?

Ich bin tatsächlich viel zurückhaltender als noch vor ein paar Jahren, passe wahnsinnig auf, wenn ich neue Menschen kennenlerne, die Skepsis schwingt immer mit. Es kommt auch vor, dass ich den Kontakt abbreche, wenn ich irritiert bin, über Vorgefallenes, ohne es anzusprechen, ohne versuchen, es zu klären. Ich habe so schlimme Erfahrungen gemacht, auch mit Versuchen, meinen Verein zu unterwandern, auch mit vermeintlichen
Freundinnen, die engste Verbindungen zu schlimmsten Medienschaffenden haben oder jahrelangen Stalkern plötzlich private Informationen weiterreichen…, das hat mich sehr belastet.

Sie ziehen Bilanz über zehn Jahre. Haben Sie in dieser Zeit auch etwas falsch gemacht?

Ich glaube nicht, dass ich das Geschehen verhindern hätte können. Ich war eine enorme Projektionsfläche: Man liebt mich, wie Madonna, oder man hasst mich. Ich habe sicher zu vielen Leuten zu schnell vertraut. Es tut weh, das sagen zu müssen, weil ich eigentlich nicht in einer Welt des Misstrauens leben möchte. Aber ich habe gelernt, keinen anonymen Accounts vertrauen, und nicht mit ihnen interagieren, auch wenn sie vertrauenswürdig erscheinen. Menschen real treffen ist immer das Beste. Das schlage ich auch selbst Betroffenen von digitaler Gewalt immer als erstes vor: Wollen wir nicht einen Kaffee miteinander trinken?

„Bin Gefühl für Gerechtigkeit gefolgt“

Umgekehrt gefragt: Was haben Sie jedenfalls richtig gemacht?

Ich bin meinem Gefühl für Gerechtigkeit gefolgt, habe keinen Millimeter nachgegeben in der Frage: Was ist gerecht? Ich habe ein gutes Gespür für Ungerechtigkeiten, und es war wichtig, dass ich da mit einer nicht zu diskutierenden Haltung in die Sache hineingegangen bin. Ich hätte das alles sonst nicht erreicht.

In der Rückschau: Welches Kraut ist gegen die Mechanismen von Boulevard-Medien gewachsen?

Ich glaube, ein ganz wichtiger Faktor ist eine funktionierende 4. Gewalt: Dass die Presse ihre Watchdog-Funktion wahrnimmt, dass ein Medium auch ein anderes korrigiert. Wie jüngst im Fall Lena Schilling in Österreich: Da wurde das Geschehen von einzelnen Akteuren reflektiert gespiegelt. Dass Presse und Journalismus funktionieren, dass nicht alle einfach den Vorreitern nacheifern, das ist das Wichtigste. Wenn sich in meinem Fall nicht auch die Qualitätspresse unreflektiert auf mich eingeschossen hätte, hätte man das ersticken können. Aber die Zuständigen waren nicht erreichbar, oder die Geschichte war ihnen „zu weit unten“ – die Medienkritiker haben sich einfach nicht geäußert.

„Postkarten haben mir Kraft gegeben“

Und: Wichtig ist auch die Solidarität, dass andere sich laut zeigen, solidarisch sind. Aber nicht auf Vorrat oder mit Gegenanschuldigungen, da wird es nur schlimmer, sondern indem sie Kante zeigen und demonstrieren: „Das geht gar nicht.“ Ich beschreibe in meinem Buch, wie sich im  Frühling 2015 Feministinnen mit Postkarten bei mir gemeldet haben, das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben.

Wie kann man sich als Betroffene rasch wehren?

Oft wird man rasch fertig gemacht, ohne dass man überhaupt etwas gesagt hat. Ganz wichtig ist, dass man sich Expertinnen anvertrauen, die Sache besprechen, im Kollektiv die Wege ausloten kann. Das muss aber niederschwellig passieren, kostenlos und schnell. Die Menschen müssten Tag und Nacht erreichbar sein und juristisches und kommunikatives Hintergrundwissen haben. Das ist eine Lücke, wir bräuchten eine Stiftung, eine Anlaufstelle, wo man sich sofort beim Entstehen von Medienkampagnen beraten lassen kann. Bei uns in der Schweiz gibt es das nicht. Alleine kann man sich nicht wehren, sonst muss man auch die schlimmen Kommentare lesen, um sich ein Bild zu machen, und das ist fürchterlich, es kann ein Trauma auslösen.

„Alleine kann man sich nicht wehren.“

Was brauchen potenzielle Opfer als Präventionsstrategie: Menschen, denen sie vertrauen?

Wenn man mit einer erfundenen Geschichte angegriffen wird, ist es das allerwichtigste, dass man nicht fallen gelassen wird, denn es gibt keinen Weg retour. Da wird einfach zu viel kaputt. Wir hatten schon so viele Frauen in der Schweiz, die auf diese Weise fallen gelassen wurden, wegen Kleinigkeiten, für die sie gar nicht verantwortlich waren. Da sind Männerbünde am Werk, aber auch Frauen, die keine Haltung zeigen, die nicht darauf reagieren, was da passiert. Das unterstützende Umfeld kann man sich aber leider oft nicht aussuchen. Um an die Spitze zu kommen, muss frau sich gegen andere durchsetzen, macht sich keine Freunde. Bei Männern ist das anders, die kommen oft dank eine Männerbundes an diese Stellen, und dieses Umfeld bleibt ihnen erhalten. Frauen müssen sich jedenfalls Vertrauenspersonen an die Seite holen, auch wenn ihnen daraus zunächst oft ein Vorwurf gemacht wird.

„Tag und Nacht da sein für Austausch“

Die spontane erste Hilfe? Der betroffenen Person signalisieren, dass ich als Vertrauensperson Tag und Nacht da bin für den Austausch, dass ich die Recherchen mache und gemeinsam mit ihr überlege, mit welchen Waffen man sich dem Plan, sie zu schwächen, entgegenstellen kann. Zum Beispiel mit positiven Zeitungsartikeln als Gegengewicht zu den negativen, mit Leserbriefen, die andere animieren, für sie einzustehen, mit dem Aktivieren aufrichtiger Leute, die sich an ihre Seite stellen.

Wie gehen Sie selbst heute um mit der Erinnerung an das Geschehen und an den oder die Täter?

Indem ich daran arbeite, die Ereignisse hinter mich zu lassen. Ein „Verarbeiten“ geht fast nicht mehr, ein Vergessen noch weniger in meiner Situation. Ich habe mich entschieden, die schlimmen Vorkommnisse eigentlich zu integrieren, daraus Kraft zu generieren. Ich habe mir sogar ein Tattoo stechen lassen als Symbol, aus dem ich positive Energie ziehe.

Ich empfand das, was mir passiert ist, als wahnsinnige Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit zu erfahren, war immer mein Ziel. Mit jedem Gerichtsurteil kommt ein bisschen mehr Gerechtigkeit. Jedes gibt einem wahnsinnig viel Kraft. Wenn die dann nicht beachtet werden, von Tätern, die auch noch offene Verfahren haben, kleingeredet oder totgeschwiegen, dann reg‘ ich mich nicht auf, sondern nehme zur Kenntnis: „Die können es vielleicht einfach nicht besser.“ Ich habe nicht den Anspruch, bei allen alles zu klären. Die, die das nicht verstehen können, können es halt nicht. Mir ist wichtig, dass in meinem Umfeld alles geklärt ist. Von bestimmten Leuten nehme ich Abstand. Die Spreu vom Weizen zu trennen ist etwas wahnsinnig Befreiendes. Ich bin froh zu wissen, mit wem ich keine Zeit verschwenden will.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie sich abgrenzen, durch die auch räumliche Abgrenzung zwischen der Liebe innerhalb ihrer Familie, dem Zuhause mit ihrem Mann und ihren Kindern, und dem Hass von außen. Dennoch: Wie schaffen Sie es, mit der vielen negativen Energie zu leben?

Wenn ich mich in eine solche Auseinandersetzung reinhänge, bin ich vollgepackt und beschäftigt. Das raubt mir alles Positive, das habe ich zum Beispiel erlebt, als ich in den1:1-Kampf gegen eine Tagesanzeiger-Journalistin ging. Erst seit ich auf Abstand bin und merkte, dass der Konzern ihr den Auftrag gab, geht es mir besser.

„Ich opfere mich nicht auf“

Ich sehe die Dinge jetzt größer. Es gibt Menschen, die ganz viel auf mich projizieren und sich an mir abarbeiten, die müsste ich eigentlich in Grund und Boden klagen. Doch das tue ich mir nicht mehr an: Das wären wieder zwei Jahre meines Lebens, in denen solche Leute mich „begleiten“ würden. Doch ich bin nicht mehr bereit dafür, Projektionsfläche zu bleiben, ich opfere mich da auch nicht auf. Es hat Sinn ergeben, einzelne Wutbürger anzuzeigen, zu treffen, mit denen zu reden, dann war wieder alles gut. Das war eine wichtige Erfahrung, aber inzwischen gibt es so viele, die sich an mir reiben, mit denen beschäftige ich mich einfach nicht mehr.

Die aktuelle Schmäh-Plattform ist der Twitter-Nachfolger X, viele verlassen dieses Soziale Medium. Wäre hier effiziente Gegenwehr möglich, oder ist das eine weitere unkontrollierbare Kampftruppe?

X muss man verlassen, das geht nicht mehr anders, da kann man nicht mehr halbherzig dabei sein. Ich habe alles gelöscht aber den Account noch erhalten, damit niemand in meinem Namen einen neuen Account eröffnet. Die Blütezeit der Sozialen Medien ist generell vorbei, es macht einfach nicht einmal mehr zehn Prozent der Freude wie früher. Ich habe mich zurückgezogen, mich stiller gemacht. Ich bin nicht glücklich damit, aber ich will keine neue Angriffsfläche bilden. Ich habe alles dafür getan, dass sich junge Frauen nicht zurückziehen müssen. Dann war ich plötzlich wieder Zielobjekt, und wieder stand ich fast allein im Sturm. Das System Social Media ist kaputt. Es kann nicht mehr so funktionieren wie früher einmal.

Im Buch schreiben Sie: „Rückblickend gab es Situationen, in denen ich erst aus Notwehr handelte, doch daraus entwickelten sich Dynamiken, die – mit etwas Abstand betrachtet – klar außer Kontrolle gerieten. Das bedaure ich.» Was meinen Sie damit?

Die Medien haben ihre Berichterstattung nie korrigiert, das musste ich selber tun, und es hat durch meine große Reichweite gut funktioniert. Aber meine Reichweite war eine geladene Waffe, insbesondere auf Twitter, das habe ich ein bisschen unterschätzt. Nach der Ankündigung einer Tages-Anzeiger-Journalistin, nun mein Trauma auch noch in einem Buch auszuweiden,
haben sich 20 – 25 Frauen bei mir gemeldet und wollten etwas für mich tun. Wir waren in einer Chat-Gruppe, und am Anfang war es wunderbar für meine Psycho-Hygiene. Aber dann kippte es in den Zynimusmus, man machte sich über die Tages-Anzeiger-Journalistin lustig, und ich habe das meinerseits nicht unterbunden. Das tut mir heute leid. Ich reflektiere auch mein eigenes Verhalten. Ich bin keine Heilige, diesen Anspruch habe ich aber selbst nicht an mich. Hätte ich Päpstin werden wollen, so hätte ich es wohl getan.

„Das größte Ausmaß von Stalking“

Wie schützt man sich vor Stalkern?  Reichen die Urteile, die Sie erstritten haben?

Die zwei Stalker, die mich seit bald einem Jahrzehnt belästigen, sind ja zwei regelrechte „Prachtexemplare“, die Zürcher Oberlandzeitung schrieb einmal, dieser Fall sei wahrscheinlich das bisher größte Ausmaß von Stalking in der Schweiz. Seit ein paar Monaten gibt es nun ein rechtskräftiges Zivilrechts-Urteil zu Cyberstalking. Ich wollte dieses Urteil vor allem auch deshalb erwirken, weil Stalking bei uns in der Schweiz noch gar nicht strafbar ist. Mit dem Urteil in meiner Sache wurde Cyberstalking nun aber erstmals als Persönlichkeitsverletzung festgemacht. Außerdem gelten gemäß diesem Urteil Diffamierungskampagnen gegenüber Drittpersonen, also Verleumdungen, bei denen nicht ich, sondern nur mein Umfeld angegangen wird, nun ebenfalls als Persönlichkeitsverletzung. Mit diesem Urteil kann digitales Stalking in der Schweiz nun also erstmals irgendwie gerichtlich gefasst werden und ein Werkzeug für andere Betroffene wurde geschaffen.

Ich hoffe, dieses zivilrechtliche Urteil wird bald ergänzt durch einen neuen Straftatbestand „Stalking“, der momentan ausgearbeitet wird. Mit einem solchen müsste das Opfer nicht mehr die ganze Dokumentationsarbeit leisten, sondern würde von der Staatsanwaltschaft und der Polizei unterstützt werden. Wir sind da noch nicht so weit wie unsere Nachbarn: Österreich war da mit der „Hass im Netz“-Gesetzgebung Vorreiter.

Wenn auch das Gewinnherausgabe-Urteil in Ihrem Sinne ausfällt – ist dann alles zu Ende?

Nein, es gibt dann schon noch ein paar nächste Schritte. Gerade gegen den Ringier-Konzern haben gehen wir mit einer Stufenklage vor . Es begann mit der Beurteilung des ersten und identifizierenden Artikels als „schwere Persönlichkeitsverletzung“. Dann gings weiter mit der Bewertung von vier Artikeln. Wenn dann „das Preisschild“ da ist, dann werden wir das auf die insgesamt 150 Artikel hochrechnen lassen. Und dann gibt es ja noch weitere Medienkonzerne – beispielsweise den größten Medienkonzern der Schweiz, Tamedia – der ebenfalls widerrechtlich unfassbar viel Geld mit meinem Namen und dem Herumtrampeln auf meinem Trauma verdient hat.
Ich stürze mich da jetzt nicht auf Redaktionen um sie „kaputt zu machen“, wie das von den Tätern immer behauptet wird, sondern es geht bloß darum, das Geld, das unrechtmäßig eingenommen wurde und fälschlicherweise bei ihnen verbucht wurde, zurückfordern. Im Gesetz steht längst, dass man sich nicht unrechtmäßig bereichern darf. Ein Ladendieb darf den geklauten Vodka schließlich auch nicht einfach behalten, oder?

„Aufs Positive konzentrieren“

Ihr Leben hat vor zehn Jahren eine schmerzhafte Wende genommen. Im Buch schreiben Sie: «Ich habe gelernt, damit zu leben.» Wie lernt man das? Kann man sich verabschieden?

Man muss daran arbeiten, das ist ein Prozess. Man muss sich aufs Positive konzentrieren. Aus jedem Kackhaufen kann man etwas Positives machen, das war immer schon meine Stärke. Schon bei den Pfadfindern habe ich die Kindern dazu motiviert, auch Dinge zu tun, die ihnen zunächst nicht so lustig erschienen, lange Wanderungen mitzumachen zum Beispiel, und dem dann doch etwas abzugewinnen. Das kann man sich aneignen, das positive Denken. Die schlimmste Waffe gegen die Depression, gegen das Erdrückende ist der Humor. Über sich und die Akteure, die sich gegen einen richten, zu lachen ist wahnsinnig befreiend.

Wann ist der Kampf zu Ende?

Wenn es gerecht ist. Wenn es wieder gut ist. Wenn Medientäter sich eingestehen müssen, dass es Konsequenzen hat, was sie tun. Und wenn sich die Situation drastisch verbessert hat für andere.

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