Die einen sehen moralische Verkommenheit, die anderen strafrechtliche Verdachtsmomente, die dritten unfaire frauenfeindliche Diffamierung. Was ist es wirklich, was hier im Fall Lena Schilling passiert?
Im Fall Lena Schilling wurden viele „Fehler“ gemacht.
Von Lena Schilling selbst, die Äußerungen tat, die ihr inzwischen teilweise leidtun, die sie heute einholen und die sie zum aktuellen Zeitpunkt politisch handlungsunfähig machen.
Von der Tageszeitung Standard, der einen Gerichtsvergleich irreführend zitierte und sich damit als Qualitätszeitung angreifbar machte.
Und von den Grünen, die auf dem falschen Fuß erwischt wurden, obwohl sie Zeit gehabt hätten, sich auf den worst case vorzubereiten und wissen müssten, wie Medien und soziale Medien agieren.
Sibylle Hamann analysiert in ihrem Blog das „Beispiel Lena“ und stellt die Frage: „Ist es das, was wir wollen?“
Was ist im Umfeld der drei Akteure passiert?
Beginnen wir mit der Betroffenen, mit Lena Schilling, einer jungen Frau, die den Sprung vom basispolitischen Engagement in die hohe Politik geschafft und damit wohl auch Altvordere verdrängt und verärgert hat. Schilling ist politisch begabt, aktionistisch erfahren und gesellschaftspolitisch maximal engagiert und motiviert. Das wird von niemandem bestritten.
Sie ist zielstrebig, sie ist kampflustig, sie ist impulsiv. Was sie politisch zum Star der Protestbewegung gegen eine Großbaustelle in Wien gemacht hat, wurde privat zum Stolperstein: Alles Private ist bekanntlich auch politisch. Wer menschlich über andere drüberfährt und sie sich zu Feind:innen macht, muss damit rechnen, dass diese Feind:innen zurückschlagen, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Wer oder was bot ihren Feind:innen Gelegenheit? Der Standard beruft sich auf das Gebot, über Politiker:innen und ihre Qualifikation zu berichten, und auf Gespräche „mit rund 50 Personen“ aus Lena Schillings Umfeld, die man – ergänzt um Chat-Protokolle – redaktionsintern dokumentiert habe. Zitiert hat der Standard in seiner ersten Story ein einziges Dokument, einen Gerichtsvergleich, und den irreführend.
Schreiben, was ist
Und damit sind wir beim Problem: Schreiben was ist, das ist seriöser Journalismus. Im Falle Lena Schilling: Gerüchte über Schilling wurden an den Standard herangetragen, und es ist das Recht und die Pflicht der Journalist:innen, diesen Gerüchten nachzugehen. Aber ab wann werden Gerüchte zu einer Geschichte für die Zeitung? Nicht, wenn 50 Leute verdeckt diese Gerüchte verstärken, sondern ab dem Zeitpunkt, ab dem eine Person dies auch öffentlich äußert und diese Äußerung politisch von Belang ist.
Das wäre etwa der Fall gewesen, wenn ein stimmberechtigtes Parteimitglied diese Äußerung öffentlich vor der Wahl Schillings getan hätte. Dann wäre daraus abzuleiten, dass es parteiintern eine Debatte gibt, und diese wäre politisch relevant.
Oder wenn ein politischer Gegner diese Gerüchte öffentlich gemacht hätte – dann wären sie medial „auf der Welt“ und man müsste darüber berichten.
Oder – die einfachste Übung – wenn man diese Gerüchte im Interview mit Lena Schilling selbst angesprochen hätte und sie bereit gewesen wäre, sie zu kommentieren.
Nichts von alledem geschah. Das Einzige, was der Standard in die Hand bekam, war ein Vergleich, der zum Inhalt hatte, dass sich Schilling dazu verpflichtete, bestimmte privat getane Äußerungen über andere nicht zu wiederholen. Und geheim zu haltende Protokolle, die angeblich belegen, dass eine Reihe von Leuten Probleme mit Schilling haben.
Das Tatsachensubstrat ist nicht nur dünn, sondern nahezu Null: Es gab keine Anzeigen, es gab keine innerparteiliche Debatte, es gab keine politische Diskussion. Wenn die Standard-Journalist:innen meinten, dass Schilling als Spitzenkandidatin ungeeignet sei, könnten sie dies in einem Kommentar äußern. Das taten sie nicht. Wenn Privatpersonen meinen, Schilling sollte keine Politikerin sein dürfen, ist dies unerheblich. Die Wahlzelle ist der geeignete Ort, um dies zu manifestieren.
Folgen gewaltig
Die Folgen der Berichterstattung hingegen sind gewaltig:
- Mehr als 6.000 Postings innerhalb weniger Stunden allein im Forum des „Standard“. Schilling wurde buchstäblich an den Pranger gestellt.
- Abertausende Postings andernorts, verteilt über alle sozialen Medien. Schilling wird öffentlich hingerichtet.
- Die Fokussierung innerhalb der Wahlberichterstattung auf Gerüchte ist ein Bärendienst an der Demokratie, die ohnehin darunter leidet, dass alle und alles, was mit Politik und politischen Vorgängen zu tun hat von den misstrauischen Bürger:innen in Zweifel gezogen wird.
Der Schaden ist immens, obwohl und gerade weil es sich beim Standard um ein Qualitätsmedium handelt. Qualitätsmedien nehmen für sich in Anspruch, es besonders genau zu nehmen mit dem eigenen ethisch-moralischen journalistischen Anspruch. Der Berichterstattung von Qualitätsmedien wird daher besonderes Gewicht und besondere Glaubwürdigkeit beigemessen. Die aktuelle Berichterstattung ist zudem Wasser auf die Mühlen all derer, denen dieser Anspruch herzlich egal ist, die jedoch freudig erregt die Waffe aufgreifen und für ihre eigenen Zwecke gebrauchen.
War es das wert?
Verteidigung unmöglich
Die Wirkung ist deshalb so fatal, weil sie die Betroffenen völlig wehrlos macht.
Gegen Kritik kann man argumentieren. Gegen Anzeigen kann man sich verteidigen. Gegen verdeckt geäußerte und verbreitete Gerüchte kann man sich nicht wehren. Nicht wenn sie hinter vorgehaltener Hand am Gang geäußert werden. Noch viel weniger, wenn sie als Lawine über die sozialen Medien anbranden.
Was irreführend berichtet wurde, hat die Anwältin Schillings klargestellt. Es ist für die Masse der Empörten wohl ohne Belang.
Was Gerüchte aus dem privaten Umfeld für die Parteiführung bedeuten und welche Konsequenzen sie daraus ableitet, nämlich keine, hat diese klargestellt. Sie wird die Debatte damit nicht beenden können. Diese Debatte war absehbar. Keine präventiven Schritte unternommen zu haben, die eine effizientere Kommunikationsstrategie vorbereitet hätten, war ein fataler Fehler.
Was Schilling selbst aus heutiger Sicht zu Äußerungen von einst sagt, hat sie nicht deklariert. Das mag wieder ein Fehler sein, aber der Grund liegt auf der Hand: Es würde wohl jede weitere Äußerung oder Klage von ihrer Seite gegen sie verwendet, die Debatte damit erst recht befeuert und „legitimiert“, die Schuldfrage zelebriert ohne Chance auf Freispruch.
Der Standard selbst berichtet davon, dass er wochenlang recherchiert habe. Ein „Opfer“ hörte bereits Anfang April „die Spatzen von den Dächern pfeifen“ und kündigte einen bevorstehenden Rücktritt an. Spätestens seit der Veröffentlichung ist eine Diffamierungswelle im Gange, aus der es kein Entrinnen gibt.
Cui bono?
Nicht selten und immer öfter sind Journalist:innen Opfer von Diffamierung, und die Autorin dieser Zeilen machte dies zum Thema und stellt sich hinter sie.
In diesem Falle sind Journalist:innen die Täter:innen und müssen sich die Frage gefallen lassen, ob es richtig ist, was sie tun.
Im Fall Alexandra Föderl-Schmid, der jüngst breit diskutiert wurde, wurde nie deren journalistische Kompetenz und das Wirken in ihrer Führungsfunktion in Frage gestellt, sondern auf dem Umweg über eine Plagiatsdebatte ihr Handlungsspielraum minimiert und ihre Existenz ruiniert.
Im Fall Lena Schilling werden nicht ihre politische Begabung, ihr Führungspotenzial oder ihr Programm für den EU-Wahlkampf thematisiert, sondern auf dem Umweg über eine private Gerüchteküche ihr Handlungsspielraum minimiert und ihre politischen Perspektiven torpediert.
Das Wesen von Diffamierung ist: Es gibt aktive Nutznießer:innen. Wer sind sie, was treibt sie an und inwiefern ist dies politisch relevant? Diese Fragen muss man journalistisch stellen. Bis hin zur selbstkritischen Fragen, ob die Geschichte und ihre absehbaren Folgen tatsächlich journalistisch gerechtfertigt oder dem eigenen Streben nach Aufmerksamkeit geschuldet sind.
Diffamierung hat System
Diffamierung hat System: Es werden Gerüchte in die Welt gesetzt. Diese Gerüchte werden verbreitet – manchmal direkt über die sozialen Medien, manchmal über Massenmedien als erste Trägerrakete – und lassen eine Welle der öffentlichen Empörung entstehen. Es geht gegen eine Person, es geht um ihren Ruf, es geht darum, sie mundtot zu machen, es geht darum, sie zum Rückzug zu zwingen und ihrer Existenz zu berauben.
Manche haben’s nur gut gemeint (wie hier der Standard, der sein Tun mit der Pflicht zur Berichterstattung verteidigt), manche wissen nicht, was sie tun (jene, die sich lustvoll an der Debatte beteiligen ohne sich für Fakten und Folgen zu interessieren oder gar verantwortlich zu fühlen), manche wissen ganz genau, was sie tun, nämlich einer ungeliebten Person existenziell zu schaden.
Es geht nicht mehr um Fehler, es geht nicht mehr um Verantwortung, es geht nicht mehr um Politik. Es ist eine Jagd. Die Person im Fadenkreuz kann sich nicht verteidigen, nur fliehen.
Die Feststellung, dass es mit Lena Schilling eine junge Frau ist, die es erwischt, ist keine Flucht in eine Opferdebatte, wie mancherorts unterstellt, sondern ein Befund. Mit der Entscheidung, sich ins Rampenlicht zu stellen, Positionen anzustreben und anderen ins Gehege zu kommen, machen sich Menschen angreifbar. Die Erfahrung lehrt: Für die Hatz auf junge Frauen findet sich rascher eine große Jagdgesellschaft als für das Halali auf alte Männer. Wie es Meinungsforscher Peter Hajek formulierte: „Die alten weißen Männer werden sagen: Es ist angerichtet.“
Prävention in Organisationen
Fatal ist die Situation auch für die Grünen. Organisationen und Institutionen müssen darauf achten, Schaden auch für sich selbst abzuwehren. Gerade Parteien, gerade in Zeiten von Wahlkämpfen. In diesem Fall hat es die Situation der Partei erleichtert, sich voll hinter das Opfer zu stellen: Es hätte keinen Unterschied mehr gemacht, sie fallen zu lassen, denn die Spitzenkandidatin kann nicht mehr ausgetauscht werden.
In der Sache ist es dann am schwierigsten Position zu beziehen, wenn es sich um Vorwürfe im höchstpersönlichen Lebensbereich handelt. Das bezieht sich in diesem Fall auf die Vorwürfe, bei denen es um tatsächliche oder vorgebliche Nahebeziehungen von Lena Schilling zu Journalisten geht. Hier wäre es wichtig und möglich gewesen, in eine Gespräch intern, zwischen Parteiführung und Lena Schilling, die Fronten zu klären und eine gemeinsame Sprache zu finden.
Grundsätzlich wächst die Notwendigkeit für Institutionen und Organisationen, sich auf Fälle wie diese vorzubereiten, Schutzkonzepte nach innen und Krisenpläne für das Auftreten nach außen zu entwickeln. Der Schutz der Betroffenen darf nicht der Verteidigung der Organisation geopfert werden.
Reflexion in den Redaktionen
Für die Medien gilt: Journalist:innen sind zunehmend Opfer von Diffamierung, manchmal aber auch Urheber:innen, jedenfalls aber Verstärker:innen und können solcherart zu Mittäter:innen werden. In den Redaktionen muss mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie Diffamierung wirkt und wie damit umzugehen bzw. sich davon abzugrenzen ist. Wo endet die Pflicht zur Berichterstattung? Wo beginnt die Fürsorgepflicht für Menschen, die Opfer von Diffamierung werden?
Diffamierung ist nicht neu. Hass im Netz ist nicht neu. Aber in Zeiten, in denen sich beides immer öfter zu einer Lawine vermengt, die sich zügellos ihren Weg durch ein aufgepeitschtes Publikum bahnt, muss noch gründlicher als bisher abgewogen werden, ab welchem Zeitpunkt und zu welchem journalistischen Zwecke welche Informationen aufgenommen und verbreitet werden.
Claudia Gigler, Mai 2024